Die Nachmittage der Kinder sind verplant, Eltern fahren ihren Nachwuchs von einem Termin zum anderen. Die Teilnahme von Kindern an Förderkursen ist heute schon fast eine Selbstverständlichkeit und angefangen wird damit bereits im Kindergartenalter. Jeder will nur das Beste für sein Kind und trotzdem stellt sich hier die Frage: Ist dieser Trend wirklich gut für unsere Kinder? Brauchen Kinder nicht vor allem Zeit zum Spielen, Toben und einfach Kind sein?
Immer früher, immer schneller, immer besser
Wie soll das weitergehen? Noch früher und noch mehr geht ja schon gar nicht mehr. Wenn ein Extrem erreicht wird schlägt ein Trend oft ins andere Extrem um: Demnach ist es kein Wunder, dass sich so viele junge Eltern für das “Freilernen” entscheiden und ihren Kindern somit nicht nur den Förderstress ersparen sondern auch die (reformbedürftige) Schule. Aber ist das die ultimative Lösung? Und wie werden die heutigen Kinder als Erwachsene über unsere Einstellung zum Lernen denken? “Waren deine Eltern auch im Förderwahn? Hattest du auch keine Zeit zum spielen?” Gut möglich, dass es in ein paar Jahren eine neue Berufsgruppe an Therapeuten, Psychologen und Coaches für Persönlichkeitsentwicklung gibt, die ausschließlich damit beschäftigt sind die Folgen des Förderwahns und der versäumten Kindheit zu behandeln.
Welches Ziel verfolgen wir eigentlich?
Der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster fragt sich in seinem Buch “Menschenkinder”: “Eine Generation, die zunehmend in den besten Lebensjahren mit Burnout zu kämpfen hat, entwirft für ihre eigenen Kinder einen Lebensweg mit noch mehr Tempo, noch mehr Leistung, noch mehr “Förderung”. Sie funktioniert Kindergärten zu Schulen um, weil sie glaubt, Kinder, die früh Mathe lernen, seien schneller am Ziel. Moment einmal – an welchem Ziel?”
Genau: an welchem Ziel? Eigentlich wünschen sich alle Eltern nur das beste für ihr Kind, aber was ist das beste für Kinder? Wettbewerbsfähigkeit, gute Noten, Abitur nach 12 Jahren Schule, möglichst früher Einstieg ins Berufsleben? Wünschen wir uns als Eltern ein perfektes Kind? Einen neuen Einstein oder Mozart? Und welche Auswirkungen hat es auf ein Kind, wenn alles an ihm “förderungsbedürftig” ist und es dadurch mit dem Bewusstsein aufwächst, nie “gut genug” zu sein? Warum machen wir diesen Trend eigentlich mit? Ist es nicht viel wichtiger unseren Kindern die Rahmenbedingungen zu gewährleisten, in denen sie zu glücklichen, selbstbewussten, sozialen und gesunden Menschen heranwachsen können?
Sport
Und wie ist das mit der Bewegungsförderung? Nicht mal mehr die Hälfte aller Kinder bewegen sich ausreichend. Also noch zusätzlich bei Judo anmelden und im Fußballverein sowieso… und damit es nicht zu stressig wird vielleicht noch ein Yogakurs zum entspannen? Aber wollen wir nicht gerade weg vom Förderwahn?
Hier müssen wir uns erst einmal über unsere Ziele im Klaren sein: Geht es uns um Erfolg und Leistung? Wollen wir eine neue Steffi Graf, einen neuen Messi? Oder wollen wir unserem Kind ein Umfeld schaffen in dem es sein Bewegungsbedürfnis vom ersten Tag an frei ausleben kann? Wollen wir, dass es Freude an Bewegung empfindet, durch Bewegung seinen Körper, seine Fähigkeiten und seine Grenzen erforschen kann und Bewegung als selbstverständlichen Bestandteil seines Lebens wahrnimmt?
Bewegungsförderung im Sinne der Kinder
“Bewegungsförderung” kann bedeuten, dass wir mit unserem Kind den von ihm gewählten Sportverein besuchen und eine Schnupperstunde vereinbaren oder es anmelden, wenn es das Training nicht als zusätzliche Verpflichtung empfindet, sondern als freiwilliges Hobby.
“Bewegungsförderung” im Sinne der Kinder kann aber auch so aussehen, dass wir unseren Kindern wieder mehr unverplante Zeit lassen und ihnen die Freiheit geben, draußen mit Freunden zu spielen. “Bewegungsförderung” kann ein Nachmittag mit Kind und dessen Freund an einem Badeweiher sein. “Bewegungsförderung” kann auch eine kindgerechte Wanderung oder ein längerer Spaziergang sein, bei dem es nicht darum geht zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern bei dem Kindern die Freiheit gelassen wird über einen Baumstamm zu balancieren (wann sie wollen und so oft sie wollen) oder einen Stecken ins Wasser zu werfen.
Interessant ist auch, dass noch bis vor paar Jahrzehnten Bewegungsmangel bei Kindern gänzlich unbekannt war und zwar trotz (oder gerade wegen?) fehlender aktiver Bewegungsförderung und obwohl es viel weniger Sportvereine gab. Die “Bewegungsförderung” bestand im Prinzip aus der fehlenden Förderung: Kinder hatten kein Nachmittagsprogramm. Spielen hieß automatisch draußen spielen. Fußball auf der Straße, Fahrradfahren, Fangen, Verstecken und auf Bäume klettern standen auf der Tagesordnung.