Wir legen unser Baby auf den Bauch um das „Kopf heben“ zu üben statt zu warten bis es sich selber in Bauchlage dreht und sich dann über den Erfolg freuen kann.
Wir setzen unser Kind aufrecht hin, bevor es sich selbstständig aufrichten kann.
Wir betrachten das An- und Ausziehen beim Wickeln als „Pflicht” die wir so schnell wie möglich erledigen wollen, damit wir anschließend wieder Zeit haben um mit dem Kind “richtig” zu spielen.
Wir heben unser Kind auf den Stuhl damit es schneller geht, obwohl wir sehen, dass es gerade Freude am selber hochklettern hat.
Und wir ziehen unser Kind an, auch wenn es sich schon lange selber anziehen kann. Fuß festhalten – Socke anziehen. Arm festhalten und in die Jacke stopfen. Wen wundert es, wenn sich das Kind die Jacke gleich wieder auszieht? Es will auch nur mitmachen beim Spiel mit der Jacke und da wir das Anziehen übernehmen bleibt für das Kind nur noch das Ausziehen übrig.
Wir fördern, wir helfen, wir lenken, wir übernehmen Entscheidungen und nur ganz selten überlegen wir uns, ob unsere Kinder nicht lieber selber aktiv wären und ob sie für den nächsten Schritt der Bewegungsentwicklung überhaupt schon bereit sind.
Warum glauben wir unseren Kindern so viel helfen zu müssen?
Warum helfen wir unserem Kind beim Laufen lernen? Wollen wir den Wettbewerb, wessen Kind am frühesten Laufen lernt, unbedingt gewinnen?
Oft helfen wir unserem Kind aus Fürsorge und weil wir ihm die Frustration ersparen wollen, wenn es bei den ersten Laufversuchen auf dem Hosenboden landet. Allerdings haben Kinder wohl eine deutlich höhere Frustrationstoleranz als wir es ihnen zutrauen: Kinder, die sich nach zig gescheiterten Gehversuchen denken: “Das mit dem Laufen schaffe ich sowieso nicht, also lass ich es lieber ganz bleiben” dürften wohl eher eine Seltenheit sein?.
Oft helfen wir unserem Kind auch, weil uns die Zeit fehlt. Klar geht es erst einmal schneller, wenn wir unser Kind mit einem Handgriff auf den Stuhl heben, oder es selber anziehen.
Und wir wollen sie fördern. Möglichst früh. So wie wir alles fördern. Sprachen, Musik und eben auch Bewegung.
Vermutlich helfen und fördern wir auch einfach aus Gewohnheit. Wir sehen dieses Verhalten überall und empfinden es deshalb als „normal“.
Was bedeutet „Freie Bewegungsentwicklung“?
Freie Bewegungsentwicklung heißt nicht, dass Kinder alles selbstständig machen müssen. Natürlich dürfen (und sollen!) wir als Eltern unseren Kindern helfen, wenn es entweder gefährlich für sie werden könnte, oder wenn sie uns (zum Beispiel durch quengeln) signalisieren, dass sie gerade gar keine Lust haben selbstständig Bewegungen auszuführen (weil sie gerade müde oder hungrig sind oder weil sie einfach gerade gerne auf dem Arm getragen werden möchten).
Freie Bewegungsentwicklung bedeutet viel mehr, dass wir Kindern die Möglichkeit geben sich (in sicherer Umgebung und wenn sie selber wollen) frei zu bewegen. Wie bei jedem Lernprozess werden sie dabei auch viele „Fehler“ machen und eben nicht beim ersten Versuch auf den Stuhl kommen, sondern erst nach einigen Fehlversuchen. Aber genau diese „Fehlversuche“ ermöglichen Kindern ihren Körper kennen zu lernen und ihre Fähigkeiten selber einschätzen zu lernen. Gleichzeitig geben wir ihnen die Möglichkeit selber ans Ziel zu kommen und dadurch Erfolgserlebnisse zu sammeln.
„Lasst mir Zeit!“
“Lasst mir Zeit!” fordert Emmi Pikler (1902-1984) (im Namen der Kinder) in ihrem gleichnamigen Buch. Als Pädagogin und Kinderärztin hatte sie bereits früh über die Bedeutung der “selbstständigen Bewegungsentwicklung von Kindern” geschrieben.
Vielleicht war die Zeit bis jetzt einfach noch nicht reif dafür. Zu verlockend die Vorstellung Kinder fördern zu können, zu verlockend sagen zu können mein Kind ist schon mit 9 Monaten gelaufen,… Heute sind wir aber an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr „noch früher”, “schneller” oder “besser” geht. Und das betrifft nicht nur die Bewegungsentwicklung. Das gilt genauso für das frühe Erlernen von Fremdsprachen und jede andere Art von Frühförderung. Oder sollen Kinder in Zukunft die erste Fremdsprache oder das Laufen bereits im Mutterleib erlernen?
Vielleicht ist heute die Zeit reif für ein Umdenken im großen Stil. Und vielleicht sollten wir uns überlegen was wir eigentlich wollen: Kompetente, kreative, glückliche, selbstbewusste und gesunde Kinder.
Was passiert, wenn wir Kindern von Anfang an so viel Bewegungsfreiheit wie möglich geben? Wenn wir das Wickeln als Spiel betrachten während dem sich das Kind frei und ohne Klamotten Bewegen darf, nach Herzenslust strampeln darf und sich über seine Bewegungen freuen darf statt “schön stillhalten” zu müssen? Wenn wir unser Kind selbstständig aufs Sofa klettern lassen und uns anschließend gemeinsam mit ihm über den Erfolg zu freuen? Und wenn wir es selber entscheiden lassen, wann es anfangen will, Laufen zu lernen? Viele Gründe sprechen dafür:
Welche Vorteile haben Kinder von der freien Bewegungsentwicklung?
Kinder, die sich ohne Förderung und ständigem Eingreifen Erwachsener entwickeln dürfen haben eine bessere Bewegungsqualität. Ihr Körper hat die Gelegenheit durch zahlreiche Versuche genau herauszufinden welche Muskeln wie viel bei welcher Bewegung eingesetzt werden müssen. Dadurch kann der Körper eine effektive, kraftsparende Zusammenarbeit der Muskeln anstreben, ohne irgendwo zu viel Spannung aufzubauen.
Der Aufbau von Selbstvertrauen ist ein weiterer Punkt der auf das Konto der freien Bewegungsentwicklung geht. Wenn es ein Kind nach vielen Versuchen schafft alleine aufzustehen, wird es sich über diesen Erfolg freuen. Jeder Erfolg wird sich positiv auf sein Selbstbild auswirken. Es wird mehr Selbstvertrauen erlangen und freudig neue Herausforderungen annehmen.
Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass Kinder durch die freie Bewegungsentwicklung Selbstwirksamkeit erfahren. Das Wissen um die Fähigkeit selbst etwas bewirken zu können (also zum Beispiel das aufstehen oder das Klettern auf den Stuhl ohne Hilfe) “fördert” nebenbei die Selbstverantwortung, also die Bereitschaft, für das eigene Handeln die Verantwortung zu übernehmen. Und dass Kinder auch später als Erwachsene deutlich im Vorteil sind, wenn sie gelernt haben ihr Leben selber zu gestalten, statt sich dem Schicksal ausgeliefert zu sehen, dürfte selbstverständlich sein.